Der Bau der Instrumente des Streichquartetts ist mit jedem Neubeginn der Einstieg in ein neues Abenteuer

Ich verliess vor 20 Jahren die englische Geigenbauschule (Newark School of Violin Making, NSVM) „mit Auszeichnung“ und konnte damals dennoch nicht abschätzen, wie viele Fragen trotz der insgesamt sehr umfassenden Ausbildung offen geblieben waren- offen bleiben mussten.

Heute vermute ich, dass der Lernprozess wohl nie enden wird- dies umso deutlicher, als der intensive Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen einerseits und zu Musikern andererseits mir immer wieder verdeutlicht, mit welchen Fragen und Problemen ich mich noch nicht hinreichend befasst habe.Dieser Austausch hat mich auch darin bestärkt, offen zu bleiben für Kritik und für konstruktive Anregungen und auch dafür, meine Erfahrungen, insofern sie relevant sind, anderen mitzuteilen.
So kann ich inzwischen auf einige mehr oder weniger gesicherte Inhalte in meinem Erhahrungs- und Wissensschatz zugreifen, und weiss mittlerweile, dass es sicher nicht ausreicht, Geigenbau ausschließlich als Präzisionsarbeit auf dem Feld der Holzbearbeitung zu sehen.

Hier nur eine kurze Auswahl der Fragen, mit denen es der Geigenbau fast täglich zu tun hat:

Wie müssen die Hölzer beschaffen sein, die wir für das Instrument verwenden? Welche physikalisch-technischen Messgrößen gilt es zu beachten? Wie lassen sich diese Messgrössen optimal in Klang umsetzen? Sind bestimmte Eigenschaften der Klanghölzer Voraussetzung für die Entstehung eines wirklich erstklassigen Instruments oder kann beim Bau durch entsprechende Anpassungen (Stärken, Stärkenverteilung etc.) dennoch ein Klangoptimum erreicht werden?

Wie lassen sich die statischen und dynamischen Verhältnisse im Instrument unter Berücksichtigung von Zug- und Druckbelastungen in den verschiedenen Zonen modellhaft darstellen und was ist beim Bau zu beachten, damit so etwas wie „Gleichgewicht“ (im Sinne einer Minimierung unerwünschter Spannungen) entsteht?

Wie wirken sich Grundierungssubstanzen und Lack auf das Schwingungsverhalten insbesondere von Decke und Boden aus? Kann man auf experimentelle Ergebnisse zurückgreifen oder sollte man sich durch eigene Versuche Klarheit verschaffen?

Welches Instrumentarium steht der Klangregulierung am vorerst fertigen Instrument zur Verfügung? Gemeint ist hier die Frage, woran zu denken ist, wenn der Klang optimiert werden soll. Lässt sich die Klangverbesserung durch Modifikation der beweglichen Teile erreichen oder ist es erforderlich, den Klangkorpus von außen zu bearbeiten?

Soweit einige technische Fragen. Von der Ästhetik des Kunstwerks Geige/Bratsche/Cello war noch überhaupt nicht die Rede, und man kann sicher sein, dass man hier des weite Feld der persönlichen Präferenzen betritt, über die man bekanntlich nur sehr schwer rational sprechen kann.

Der grundsätzlich experimentelle Charakter meiner Vorgehensweise im Geigenbau wird darin deutlich, dass ich keinesfalls davor halt mache, ein Instrument dann, wenn es nicht so funktioniert wie beabsichtigt, zu öffnen und ggf. Decke oder Boden neu anzufertigen und dabei eben Faktoren wie Wölbungshöhe und/oder Wölbungsverläufe und Stärken anders zu gestalten wie ursprünglich versucht und als nicht erfolgreich befunden.

Mit einigen der oben kurz angedeuteten Fragenkomplexe habe ich mich experimentell auseinandergesetzt. Die offenen Fragen haben aber trotzdem immer noch ein deutliches Übergewicht.
Eigentlich überflüssig zu betonen, dass ich außer für Steg-, Wirbel- und Griffbrett keine Vorprodukte verwende, wie sie die Massenfertigung einsetzt. Nur so bin ich in der Lage, mir einen exakten Überblick über die verwendeten Materialien zu verschaffen, weil ich zumindest Herkunft, Alter, Lagerung und Fällzeitpunkt kenne.

Alle von mir verwendeten Lacke, Pigmente, Randeinlagen sind von mir selbst hergestellt worden, wobei ich sowohl alte Herstellungsrezepte als auch eigene Modifikationen dieser alterprobten Substanzen und Verfahren anwende.

Auch die Wissenschaft kommt oft nicht ohne die Vorgehensweise des „trial and error“ (Versuch und Irrtum) oder des „learning by doing“ (lernen durch tun) aus. Die Geige (und ihre grösseren Verwandten) ist ein derart komplexes System, dass auch die aufwändigsten Computersimulationen uns Geigenbauern keine klaren Anweisungen liefern können von der Art: So musst Du es machen, dann …In diesem Sinne ist meine einleitende Bemerkung über Geigenbau als Abenteuer zu verstehen: Ich hatte schon einige Male das Vergnügen, mit sehr guten Musikern, Wissenschaftlern und Geigenbauern experimentell am fertigen Instrument zu testen, was ein bestimmter grösserer oder auch nur ganz klein erscheinender Eingriff in klanglicher Hinsicht bewirkt. Diese Erfahrung zeigt, dass unser Wissen auf dem Gebiet des Geigenbaus lückenhaft ist. Darüber hinaus kann es von Vorteil sein, die eigene Sichtweise zumindest zeitweise in Frage zu stellen und andere Annäherungen an das „System Geige“ zuzulassen.

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